„In der Luft wächst ein Glockenturm aus Lauten“ lautet der Titel der Ausgabe des Lesebuches mit Prosa-Literatur der Russlanddeutschen aus der zweiten Hälfte des 20. – Anfang des 21. Jahrhunderts von „RusDeutsch Media“ aus dem Jahr 2016.  Der Name ist nicht nur ein schönes Bild, für die Herausgeberin der Chrestomathie – Prof. Dr. Elena Seifert, eine renommierte russlanddeutsche Dichterin, Schriftstellerin und Literaturwissenschaftlerin – ist er eine Metapher für die Entstehung eines literarischen Werkes. „Ein wahres literarisches Werk wächst harmonisch hervor, wie ein Glockenturm“, erklärt Elena Seifert die Entscheidung, das Lesebuch mit einer Zeile aus ihrer Novelle „Das Schmelzschiffchen“ zu benennen.  Die von Elena Seifert zusammengestellten Ausschnitte aus Novellen, Romanen, Erzählungen, Miniaturen und Schwänken (besondere Gattung einer satirischen humoristischen Kurzerzählung, volkstümlich und oft derb) sind eben Beispiele authentischer, harmonisch, wie ein architektonisches Gebilde, hervorgekommener Werke der russlanddeutschen Literatur, die einem breiten Leserkreis immer noch wenig bekannt ist.  Aus historischen Gründen war das literarische Schaffen der Russlanddeutschen in der Sowjetunion den Lesern unzugänglich. Die Autoren selbst, zusammen mit Tausenden anderen Russlanddeutschen, wurden Opfer der Repression, ihr Schaffen verboten und verschwiegen.

Die Herausgabe des Buches ist somit eine Notwendigkeit und in der Tatsache begründet, dass, obwohl das Interesse an dieser Literatur gestiegen ist, es nach wie vor zu wenig veröffentlichte Werke russlanddeutscher Schriftsteller existieren.  Der Fundus am literarischen Schaffen einer ganzen Ethnie, deren Kenntnis unser Wissen über die Welt vervollständigt, darf nicht verloren gehen. Es bedarf der Erforschung, Systematisierung und Aufnahme in das literarische Welterbe. Die Chrestomathie – das Lesebuch der Literatur der Russlanddeutschen – stellt eine Sonderform der Anthologie dar und ist einerseits für Bildungszwecke bestimmt. Es ist eine Mustersammlung russlanddeutscher Autoren und Teil des Weiterbildungsprogramms „Das ethnische Weltbild in der Literatur der Russlanddeutschen“ vom Institut für ethnokulturelle Bildung. Andererseits steht auch das Bemühen um weitere Lesekreise im Vordergrund: Das Buch soll allen Interessenten helfen, sich ein ganzheitliches Bild über die Prosa der Russlanddeutschen, ihre eigentümliche Poetik und Problematik zu verschaffen. Für die russlanddeutsche Literatur bedeutet es einen weiteren Schritt zur Erlangung des Status einer bekannten und erforschten Literatur.