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30. August 2016

Über die Vergangenheit - der Zukunft wegen

Die dokumentarische Trilogie „Fortjagen muss man sie“ (2011), „In Arbeitskolonnen für die gesamte Zeit des Krieges“ (2012) und „Auf ewig, ohne Recht auf Rückkehr“ (2015), in der sich Augenzeugen und Wissenschaftler zur Deportation der Sowjetdeutschen, zur Arbeitsarmee und zum Sondersiedlungsregime der Deutschen in der UdSSR äußern, ist vollendet, veröffentlicht und liegt der Leserschaft vor.

Das Autorenkollektiv der Sammelbände um Prof. A. German hat über viele Jahre aussagekräftiges Material zusammengetragen, sortiert und analysiert. Finanziell gefördert wurde das fundamentale Projekt vom Innenministerium der Bundesrepublik Deutschland, organisatorische Unterstützung gab es vom Internationalen Verband der deutschen Kultur. Die Bücher setzen sich aus wissenschaftlichen Artikeln, Archivdokumenten und Erinnerungen von Betroffenen der schrecklichen Ereignisse zusammen. Die dokumentarische Saga ist für den Leser von gleicher emotionaler Wucht wie ein erstklassiger Roman.

Wenn Sie die Erinnerungen der Augenzeugen lesen, werden Sie denken: Das kann doch nicht sein! Das ist ja unerträglich! Aber beim Durchblättern gelangen Sie unter dem Eindruck der Zahlen und Fakten aus dem wissenschaftlichen Archivmaterial zu der Überzeugung: Ja, so war es! Wenn Sie im dokumentarischen Teil zu lesen beginnen, werden Sie denken: Aber wie war das alles nur zu ertragen? Und wenn sie dann im Abschnitt mit den Erinnerungen lesen, bekommen Sie eine Antwort auf Ihre Fragen.

„[…] Häufig standen rechts vom Tor unseres Lagers Menschen, die sich kaum auf den Beinen halten konnten: verdreckt, blutbefleckt und in Lumpen gehüllt, den Blick zu Boden gerichtet, umstellt von Wachposten mit scharfen Schäferhunden. Sie stützen einander, als stünden sie in Erwartung der Salve am Rande einer Grube. Das waren Flüchtlinge, die aus dem Gulag geflohen waren; zumeist ehemalige Soldaten, die man wegen ihrer nationalen Zugehörigkeit aus der Roten Armee entlassen hatte. Sie wollten lieber an der Front sterben, im Kampf gegen den Faschismus, für die Heimat und für Stalin, als hier hinter dem Stacheldraht des Konzentrationslagers. Für die Flucht aus dem Gulag hatte man sie als Volksfeinde zu zehn Jahren Lagerhaft verurteilt und sie in das Lager nebenan gesteckt – zu den inhaftierten Kriminellen […].“ Das sind Zeilen aus den Lebenserinnerungen von Josef Kessler, nur ein Körnchen von dem, was insgesamt zusammengetragen wurde.

In den Sammelbänden hängt alles miteinander zusammen – wie in dem physikalischen Gesetz über die verbundenen Gefäße, nur, dass man für die Herleitung des Gesetzes Flüssigkeit, Wasser, verwendete, während in der Trilogie ein historisches „Experiment“ mit menschlichem Leben beschrieben wird, das für viele Tausende Russland- bzw. Sowjetdeutsche mit dem Tode endete. Die Verbindung von Dokumentarischem, Lebenserinnerungen von Augenzeugen und alten Fotos bewirkt einen dreifachen Effekt. Wir nehmen die Ereignisse jener Jahre plastisch und deutlich sichtbar wahr, wobei wir uns in besonderer Weise der moralischen Größe unserer Großväter, Väter und Mütter bewusst werden, die Entbehrungen, Demütigungen, ungerechtfertigte Anschuldigungen, Hunger, Kälte, Krankheiten und den Tod von nahestehenden Personen ertrugen und trotzdem in der Masse nicht verzweifelten, sondern in sich sogar die Kraft fanden, zum Wohle ihrer Heimat zu arbeiten, obwohl sich diese ihnen gegenüber wie die böse Schwiegermutter gebärdete.

Die Zahl der deutschen Trudarmisten ging in die Tausende. Ihre Namen werden von den Autoren der Sammelbände in den Artikeln über die Schicksale der Deportierten in Kasachstan, Sibirien und im Ural genannt… Die Sowjetdeutschen leisteten in den Jahren des Krieges und beim Wiederaufbau der Nachkriegswirtschaft großartige Arbeit, allerdings unter Aufsicht. „Wir hätten das auch freiwillig geleistet. Das ist das Kränkende daran!“ Das lesen wir in einem der Auszüge aus den Lebenserinnerungen.

Jenen, denen man das Leben nicht mehr zurückgeben kann, sollten wir dafür dankbar sein, dass die meisten von ihnen in den für die Russlanddeutschen schwersten Jahrzehnten (!) Klugheit und Standhaftigkeit gezeigt haben und unter unmenschlichen Bedingungen Menschen geblieben sind. Heute können deren Enkel, egal, wo sie leben, ob in der Russischen Föderation, in der Ukraine, in Kasachstan oder im Kaukasus, in Europa, Kanada oder Amerika, stolz darauf sein, dass ihre Vorfahren nicht nur Menschen mit hoher Moral geblieben sind, sondern darüber hinaus auch Patrioten ihres Landes und ihrer Bestimmung. In den Bänden der Trilogie sind Hunderte Beispiele dafür angeführt, wie Arbeitsarmisten und Deportierte, die wieder ganz bei Null anfangen mussten, Helden der Arbeit, bekannte Pädagogen, Ärzte, Architekten, Wissenschaftler, Musiker und Maler wurden. Hier zeigt sich die Kraft des Willens!

Meiner Meinung nach sollten diese Bände vor allem von jenen gelesen werden, die immer noch Deutsche und Faschisten gleichsetzen. Denn die Einimpfung nationaler Grausamkeit – „Töte den Deutschen!“ – wurde noch von Ilja Ehrenburg in den Losungen des Vaterländischen Krieges gepriesen. Und diese Infiltration wirkt bis heute noch auf die Generationen viele Menschen im postsowjetischen Raum. Leider …

Dessen sind sich sowohl das Autorenkollektiv der Sammelbände, A. A. German, O. Ju. Silantjewa, V. M. Kirillow, A. A. Schadt, R. A. Bikmetow, K. A. Sabolozkaja, L. N. Slawina, E. N. Tschernoluzkaja, O. A. Jakowjenko, D. Inojatowa und N. Krallemann (Übersetzung) bewusst, als auch jene, die dem Aufruf der Autoren und Verantwortlichen gefolgt sind und ihre Lebenserinnerungen und Fotos an den Internationalen Verband der deutschen Kultur geschickt haben. Auf den wunderbar gestalteten Seiten (Design: A. Smirnowa) können wir nicht nur Kopien von Originaldokumenten und Fotos der Autoren, sondern auch Reproduktionen von Bildern deutscher Maler sehen.

Not schweißt zusammen. Die Autoren der Trilogie registrieren ein historisches Phänomen. Die langen Jahre der Minderheitendiskriminierung haben dazu geführt, dass eine neue ethnische Gemeinschaft entstanden ist: ein einheitliches deutsches Volk. Und diese Gemeinschaft bewahrt, wie auch schon ihre Vorfahren, ethnisch geprägte Eigenschaften, die durch keine „Säuberungungen“ ausgerottet werden können: Anstand, Ehrlichkeit, Standhaftigkeit, Treue, absolute Loylität und hohe Sachkompetenz.

... Ein Freund meines Vaters, Iwan Kronwald, hat sich sein ganzes Leben für die Wiederherstellung der Republik der Wolgadeutschen eingesetzt. Mit diesem Traum ist er auch gestorben. Es gibt Ereignisse, die man nicht rückgängig machen kann. Stattdessen aber kann man alles dafür tun, damit sich Ähnliches nicht wiederholt. Die auf Dokumenten basierende Trilogie gehört in die Kategorie prophylaktischer Mittel. Auch wenn es paradox klingt, kann das Studium des dreibändigen Werkes, das von Gefühlen des Schmerzes und der Verzweiflung dominiert wird und zahlreiche entlarvende Dokumente enthält, als überzeugendes Argument für das Verständnis und die Annäherung von Vertretern aller Nationalitäten dienen.

 

Irina Slowzowa

Mitglied des Journalistenverbandes St. Petersburg

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